Einstiger Stammsitz eines Weltkonzerns ist heute lebendiges Kunst- und Kulturzentrum an der Ruhr
Symbole, u.a. Basilisken zieren den Giebel des Jugendstilhauses Ruhrstr. 3 in der Kultur- und Kunststadt Mülheim
Zum Thema „Darstellungen an der Fassade des Hauses Ruhstr. 3“ Gedanken von Professor Dr. Heiner Treinen, Mülheim
"Es handelt sich um die freie Darstellung des mythischen Viehs, das Basilisk genannt wird und eine Mischung von Drachenleib, Hahnen- (oder Hunde)kopf, Schlangenschwanz und anderen aggressiven Tier-Merkmalen koppelt, also analog zur Figur der Chimäre konstruiert ist und ebenso vieldeutige Sinnbezüge zuläßt. Der Basilisk frißt, wie die Mythologie des Basilisken vorschreibt, Schlangen - siehe die Schlangenornamentik in der oberen Fassadenrundung - und Insekten, was gegen den Augenschein auf Hahnenkopf statt Hundeschnauze hindeutet, während der in sich verschlungene Schwanz wiederum den zentralen Schlangenanteil des Basilisken-Mythos verdeutlicht. Beides bezieht sich auf antike Vorbilder und literarisch verklausulierte magische Denkweisen. Ich würde die ungebrochen weitergeführte magische Botschaft als abwehrzauberisch bezeichnen; von außen betrachtet als zerstörerisch gegenüber bösen Einflüssen, aus interner Sicht hingegen wie der chinesische Drache als Verteidigung gegenüber feindlichen Kräften. Ich denke, daß die spät-mittelalterliche ( oder früh-neuzeitliche) Nutzung von Basilisken-Darstellungen modernes Denken vorwegnimmt: in bildlichen Darstellungen von Inhalten der Naturalienkabinette ab dem späten 17. Jahrhundert (Darbietung realer Objekte als "Kuriositäten" im Sinne von Dingen, die wissenschaftliche Neugier erregen) tauchen plötzlich neben empirischen Tier- und Insektendarstellungen ausgedachte Basiliskenzeichnungen auf; ein ungelöstes Rätsel für die heutigen Interpreten, die Aberglauben vermuten. Ich habe den Verdacht, daß mit solchen Basilisken-Bildnissen eher darauf hingewiesen werden sollte, daß man bei naturwissenschaftlichen Erklärungsversuchen auf religiöse Deutungen verzichten muß; der Bezug zur Antike hatte mit Glauben nichts zu tun, sondern mit Bildung und mit antiken Mythologien, die als solche und nicht als geglaubt erkannt wurden. Was die Auftraggeber und Gestalter der Fassade getrieben hat, Basilisken darzustellen, lässt sich nur erahnen. Für Importeure bislang als exotisch und damit zunächst als ungewiss-gefährlich geltende Konsumgüter mag der Basilisk genau diese Ambivalenz ausdrücken, wobei der antike Bezug einen ironischen Bildungsbeitrag im Sinne von 'fürchtet Euch nicht' beisteuert."
Das Kontorhaus (links angestrahlt) im Denkmalensemble Ruhrstr. 3 bis 9 in der Kunststadt Mülheim an der Ruhr (Aufnahme 2015 während der Mülheimer Kunsttage 2015 von Ivo Franz) – die beiden Häuser in der Ruhrstr. 3 und später Nr.5 bildeten einst den Stammsitz des Tengelmann Konzerns (Wilhelm Schmitz, später Schmitz-Scholl ab 1867). Unmittelbar bei Ruhranlage und Ruhrpromenade der Kunststadt Mülheim an der Ruhr liegt die „Galerie an der Ruhr / Ruhr Gallery” und das “Kunsthaus Mülheim Stadtmitte mit verschiedenen Ateliers”.
Schaut man in die einschlägigen Werke der Geschichtsforscher, findet man schnell den Namen der Mülheimer Unternehmung „Joh. Wilh. Meininghaus Sohn“ einer Kolonialwaren-Großhandlung mit Seifensiederei und Tabakfabrik in der Ruhrstr. 3 – 5. Die Villa Artis stand schon vor 1840 freistehend an der heutigen Stelle und wurde später mit einer Jugendstilfassade überformt. In den 50er Jahren bauten die Architekten Arthur Pfeifer & Hans Großmann das Anwesen zusammen mit dem „Haus der Stromwirtschaft“, Delle 50-52) erneut um. Seit 2012 wird das Anwesen für kulturelle Zwecke genutzt.
Johann Wilhelm Meininghaus (1790–1869), verheiratet mit Henriette Meininghaus geb. Troost (1796–1876) jüngste Tochter des Textilfabrikanten Johann Caspar Troost II (1759–1830) ) tauschte diesen Besitz 1856 mit Ludwig Lindgens (1824 – 1910).
Im von der Stadt Mülheim zur Verfügung gestellten Katasterauszug sind die Umrisse der damaligen Fabrik-Bebauung gut erkennbar.
Mitte Ruhrstr. 1 daneben Ruhrstr. 3 Glockengiebel
Fest steht danach, dass Gebäudeteile abgerissen wurden bzw. mehrfach überformt wurden. Nachgewiesen ist die Wohn-Nutzung der VILLA ARTIS durch die Familie von Wilhelm Schmitz (1831-1887) (späterer Schmitz-Scholl) und Louise Schmitz-Scholl geb. Scholl (1834-1888) und dessen finanziellen Teilhabers und Mühlenbesitzers Ludwig Lindgens (1824-1910), der 1862 aus der Ruhrstr. 3 mit seiner Frau Gertrud Lindgens geb. Rühl (1837-1897) auszog. Wilhelm Schmitz Scholl erwarb den Besitz für 5000 Taler. Von seinen 5 Kindern soll sich später Wilhelm (1861–1927) um das Anwesen in der Ruhrstr. 3-5 gekümmert haben. Später wohnte Wilhelm (1861–1927) in der Ruhrstr. 32.
Heute inspiriert ein einmaliges Ambiente in einem bemerkenswerten Jugendstil – Baudenkmal, das zunächst den Kolonialwarenhändlern Meininghaus und später Schmitz-Scholl als Stammhaus diente und später von Baumeister Ernst Niebel für den Mülheimer Industriellen Carl Nedelmann (1867 – 1947) neben dem historischen Casino-Stammhaus in der Ruhranlage „an der Delle“/Ecke Ruhrstraße 3 zusammen mit der Errichtung der sog. Villa Nedelmann an der Delle Nr. 50 umgestaltet worden sein soll.
Zu der ungewöhnlichen Jugendstilarchitektur wird von Roland Günter in seinem Buch „Die Kunstdenkmäler des Rheinlandes“ in Bezug auf das markante Eingangsportal an der Ruhrstraße Nr. 3 auf das Portal der Londoner „Whitechapel Art Gallery von Townsend“ hingewiesen. Über dem Portal ist keine Banane, die die Ruhr Gallery als “herausragenden Kunstort markiert” – sondern das stählerne Logo “N”, das heute für “Neue Kunst” steht – vor mehr als 100 Jahren war es das Firmenemblem des Mülheimer Stahlhändlers Oskar Natorp .
Der Glasfabrikant Carl Nedelmann richtete schließlich in dem mehrfach überformten Gebäude seine Nebengelasse ein.
Über die neue Ruhrpromenade zum neuen Mülheimer Stadthafen und in die neu gestaltete City der Kunst- und Kulturstadt Mülheim an der Ruhr als „Stadt am Fluß“ sind es nur wenige Schritte in die Galerie für Moderne Kunst Mülheim a. d. Ruhr und das MMKM – MUSEUM MODERNE KUNST MÜLHEIM direkt am Innenstadtpark Ruhranlage.
Vor der vielfältigen Nutzung seit 18405 (heute Kunstmuseum MMKM und Galerie an der Ruhr) in der Ruhrstraße Nr. 3 stand dort die freistehende Villa Artis (siehe Pfeil oben), die später überformt wurde und von Baumeister Ernst Niebel dem Stil der sogenannten „Villa Nedelmann“ an der Delle 54 (wurde leider abgerissen) angeglichen wurde. Auch das Nachbarhaus, Ruhrstraße Nr. 1 fiel der Abrissbirne zum Opfer. Hier entstand 1954-1956 ein 4-geschossiger Verwaltungsbau der Gesellschaft für Stromwirtschaft (GfSt), der seit 2014 ebenfalls unter Denkmalschutz steht. Die GfSt verkaufte das Gebäude 2018 an die Saarner Familie Mies und zog nach Düsseldorf um.
alle diese Gebäude blieben vom Bomben-Krieg verschont
Schöne Aussicht für die Harke/Syntana Mitarbeiter in den 70ern in ihrem Stammsitz am Ruhrufer:
Firmengründer Eberhard Harke residierte in der Ruhrstr. 3 (Haus mit dem runden Giebel) zur Ruhrseite hin – die Mitarbeiter konnten zeitweise bis in die Innenstadt schauen (Foto)
Ansicht von der Ruhr aus – rechts Villa Nedelmann, daneben erkennbar Erkerzwiebeltürmchen der VILLA ARTIS in der Ruhrstr. 3 und Glasdach über dem Treppenhaus – ein Dorado für Kunsthistoriker aus Mülheim an der Ruhr
Im Bild oben ist rechts gut erkennbar das Stammhaus der Gesellschaft Casino e.V., das 1841/1842 von Baumeister Wilhelm Dahmen errichtet wurde.
Die vom Mülheimer Glasfabrikanten Carl Nedelmann errichtete Villa mit ihrem für Mülheim einzigartigen Turmdach bestimmte seinerzeit die Skyline von Mülheim, die historische Ruhrpromenade und die Ruhranlage davor sind gut zu erkennen. Die Villa selbst wurde durch das Nedelmannhaus an der Ruhrstraße erschlossen. Hier fuhren u.a. die Kutschen in den heutigen Galeriehof.
VILLA ARTIS, Ruhrstr. 3 um 1960 – etwa 100 Jahre zuvor Wohnsitz von Tengelmann--Gründer Wilhelm Schmitz später Schmitz – Scholl (vgl. WISSOL)
Figuren als Giebelschmuck der Jugendstil – Fassade
Klassische Stuck-Motive im Jugendstil und deren Darstellungsweise
Die Inspirationen holten sich die Künstler meist aus der Natur. Zu den klassischen Motiven des Jugendstils gehörten daher langstielige Pflanzen wie Orchideen und Lilien. Auch Wasserpflanzen und gewöhnliche Wiesenpflanzen wurden gern verwendet. Tiere mit geschmeidigen Formen wie Schlangen, Salamander, Schwäne, Chamäleons und Flamingos gehörten ebenfalls zu den häufig dargestellten Motiven. Ihre Konturen und Silhouette werden betont. Ihre Darstellung ist flach, was sich in der Sichtweise der damaligen japanischen Kunst begründet. In Frankreich fiel der Jugendstil etwas schwellender und plastischer aus, da die Tradition des Rokoko ihn beeinflusste.
Auf den Spuren von Carl Nedelmann
Umzug der Familie Carl Nedelmann auf die andere Seite der Ruhr „Kassenberg 78“
Carl Nedelmann (1867-1947) Quelle: Geschichtsverein Mülheim / Wikipedia
Wohnhaus von 1895 – 1899 der Familie Carl Nedelmann, rechts neben dem Tor seine Kinder Henny und Otto, bevor er die Villa an der Delle Nr. 54 baute und bezog (siehe oben).
Nach der Zerstörung der Villa Nedelmann an der Delle 50 – 54 in den letzten Kriegstagen zog die Familie in die Villa am Kassenberg 78 auf der gegenüber liegenden Ruhrseite,
Carl Nedelmann war u.a. Mitglied der Mülheimer Bürgergesellschaft „Mausefalle“ nachweisbar von 1928 bis 1947, dort als „Baas“ (Vorsitzender) nachzuweisen von 1939 bis 1947 (Recherche durch Bernd Brinkmann im Jahr 2014). Carl (auch Schreibweise Karl) Nedelmann war auch Gründungsmitglied des Mülheimer Geschichtsvereins im Jahr 1906 und Vorstandsmitglied der Mülheimer Casinogesellschaft (Bürgergesellschaft von 1816).
Carl Nedelmann wurde 1947 beim Überqueren der Bundesstraße B1 vor seinem Haus überfahren und starb an den Folgen des Unfalls.
Link zum Stammbaum der Familie Nedelmann hier.
Zusammenstellung historischer Ausnahmen aus dem Fotoalbum von Carl Nedelmann
Nachbarschaft der Galerie an der Ruhr / Ruhr Gallery Mülheim
Die GFST Gesellschaft für Stromwirtschaft eG verkaufte 2012 die VILLA ARTIS, um die Errichtung eines Kunsthauses in der Innenstadt von Mülheim an der Ruhr zu ermöglichen.
Ein weiterer Nachbar der Galerie an der Ruhr ist die Evangelische Freikirche, die das o.g. historische Casinogebäude erworben hat.
Eigentümer der Liegenschaft Ruhrstraße 3
Die einst freistehende Industriellenvilla hatte außer der Familien Schmitz-Scholl und Nedelmann wechselnde Eigentümer – z.B. verkaufte die Industriellenvilla am 31. Juli 1963 die Reederfamilie Jakob Haferkamp (der 1859 als Schiffsjunge bei Mathias Stinnes begonnen und mindestens 50 Jahre für das Unternehmen Stinnes gearbeitet hatte). Seine Frau Charlotte verkaufte das Anwesen in der Ruhrstr.3 mit Nebengebäuden an die Gesellschaft für Stromwirtschaft GmbH, die es 50 Jahre lang nutzte und 2012 an die heutigen Eigentümer, eine Mülheimer Familie aus Saarn verkaufte.
Historische Aufnahmen rund um das Nedelmannhaus in der Kunststadt Mülheim an der Ruhr
Nutzung des Kunsthauses vor 2012
Das Nedelmannhaus, Ruhrstraße Nr. 3 hier im Jahr 1960 beherbergte u.a. das Büro der Firma Hestermann, das Hauptzollamt Mülheim, es ist das Stammhaus Tengelmann-Twenty-One (Gründer Wilhelm Schmitz-Scholl wohnte hier unter einem großen Dach mit Ludwig Lindgens).
(Malermeister Harold Endrikat)
Das Handelsunternehmen Syntana (heute Harke Group) hatte über 25 Jahre im Nedelmannhaus Büros und Rechenzentrum – das Gebäude wurde hierzu von der Delle 50 – 52 aus erschlossen.
Fast 30 Jahre lang war im Erdgeschoß der Gewerbebetrieb des Mülheimer Malermeisters Harold Endrikat untergebracht. Harold Endrikat kümmert sich in dieser Zeit auch um die Erhaltung des Baudenkmals und restaurierte aufwändig die Stuckfassade in der Ruhrstraße 3.
Von der Malerwerkstatt von Harold Endrikat hier weitere Fotos:
Amt für weiterbildende Fantasie
In das ehemalige Atelier des Mülheimer Bildhauers Ernst Rasche ist im Jahr 2014 das Amt für weiterbildende Fantasie eingezogen.
Vergänglichkeit am Beispiel des Neckermann Hochhauses Mülheim
xZum Thema „Tengelmann und die Familie Schmitz-Scholl“ schreibt die Ruhr Revue, Ausgabe 02/2009 am 11. April 2009 (Auszug)
Die Familie Schmitz-Scholl legte den Grundstock zur heutigen internationalen Unternehmensgruppe Tengelman, die immer noch im Besitz der Gründerfamilie ist. Bis heute liegt die Firmenzentrale in Mülheim (seit Ende 2019 nahe der Schleuseninsel im ehemaligen Gästehaus).
Wieder einmal Mülheim: In jener Stadt, in der vor 150 Jahren die Stinnes und die Thyssens ihre späteren Imperien begründeten, legte zur gleichen Zeit eine andere Familie den Grundstock zur heutigen internationalen Unternehmensgruppe Tengelmann-Twenty-One . Die Firmenzentrale liegt noch heute in Mülheim, und das Unternehmen ist noch immer in den Händen der Gründerfamilie
Wenn das mit den Tengelmanns außerhalb Mülheims nicht überall bekannt ist, liegt das wohl auch an den Namen. Denn erstens sind es keineswegs Tengelmanns, die Tengelmann gegründet und groß gemacht haben. Und zweitens wurde das Unternehmen seit 1969 über 30 Jahre lang von Erivan Haub geprägt. Haub aber ist nicht der Name des Gründers, und Erivan darf man einen exotischen Vornamen nennen. Obendrein wusste man von diesem öffentlich sehr zurückhaltenden Mann, dass er ein halber Amerikaner sei.
In Wahrheit aber sind Erivan Haub und seine Söhne sehr wohl direkte Nachfahren des Mülheimer Firmengründers, der noch auf den Allerweltsnamen Schmitz hörte.
Lehre ohne Lohn
Hermann Wilhelm Schmitz wird 1831 als Sohn eines Mülheimer Tuchhändlers geboren und gehört damit zu den bürgerlichen Mülheimer Kreisen. So kann er auch die „höhere Bürgerschule“ besuchen und Privatunterricht in englischer Sprache erhalten. Mit 15 Jahren allerdings verlässt der junge Schmitz die Schule und absolviert eine dreijährige Lehre in einer Kolonialwaren-Handlung. Der mit 74 Jahren schon betagte Vater hat die Stelle vermittelt, damit der älteste Sohn möglichst bald als Kaufmann würde verdienen können.
Von Geld ist zwar in der unbezahlten (!) Lehre noch keine Rede; obendrein stirbt Vater Schmitz, noch ehe die Lehre beendet ist. Doch Wilhelm macht auf seinen Chef einen so guten Eindruck, dass er als Angestellter übernommen und 1856 sogar zum Nachfolger des Inhabers bestimmt wird. Schmitz führt das Geschäft zehn Jahre mit einem Teilhaber als „Wilh. Schmitz & Lindgens“; am 1. Januar 1867 wird er Alleinnhaber. „Schmitz“ als Firmenname ist ihm zu verwechselbar, so fügt er den Geburtsnamen seiner Frau an: „Wilh. Schmitz-Scholl“. Und er räumt seiner Frau auch Prokura ein.
Handel mit Kolonialwaren
1855 hat Schmitz seine Louise, geborene Scholl geheiratet, Tochter eines Ruhrschiffers und Gastwirts. Das junge Paar erarbeitet sich rasch einen Platz im Mülheimer Bürgertum; die Schmitz’ weben ein damals typisches Netzwerk aus familiären und geschäftlichen Verbindungen. So heiratet die älteste Tochter einen Geheimen Sanitätsrat, der älteste Sohn eine junge Frau aus der hoch angesehenen Essener Familie von Waldthausen.
„Wilh. Schmitz-Scholl“ handelt en gros mit Kolonialwaren, vorwiegend mit Kaffee, Tee und Kakao. Die Kaffeebohnen werden, wie üblich, „grün“ verkauft und erst vom Kunden geröstet. Mit der Idee, Kaffee industriell zu rösten, geht 1880 in Viersen Josef Kaiser voran. Wilhelm Schmitz folgt 1882. Das Geschäft läuft gut, steht jedoch bald im Schatten privaten Unglücks: 1886 wird Louise Scholl bei einem Kutschenunfall schwer verletzt; die Sorge um seine Frau setzt auch dem herzkranken Schmitz zu. 1887 stirbt er mit 56 Jahren. Die Witwe folgt ihm wenige Monate später. Zuvor überträgt sie das Geschäft auf Wilhelm junior, den ältesten, und Karl, den jüngsten Sohn. In dieser Generation etabliert sich der Doppelname Schmitz-Scholl.
Neue Kaffee-Geschäfte
Es ist Karl, der sich bald als kaufmännischer Erbe des Firmengründers entpuppt. Seine Idee ist es, die Waren künftig über eigene Filialgeschäfte zu vertreiben. Einen bodenständig klingenden Namen für das neue Geschäft steuert Emil Tengelmann bei: Der Spross einer im Bergbau aktiven Essener Unternehmerfamilie ist Prokurist bei Schmitz-Scholl. Der erste Laden eröffnet als „Tengelmann’s Kaffee-Geschäft“ 1893 in der Düsseldorfer Altstadt. Rasch wächst ein Filialnetz über ganz Deutschland; allmählich wird das Sortiment dabei um Lebensmittel und Haushaltwaren erweitert. Am Namen Tengelmann halten die Brüder Schmitz-Scholl auch fest, als ihr Prokurist 1904 mit nur 40 Jahren stirbt.
Unterdessen ordnet Karl Schmitz-Scholl sein Privatleben: 1895 heiratet er Elisabeth Weynen, Tochter des Technischen Direktors der Bergeborbecker Zinkhütte. Die Hütte ist in belgischem Besitz, und auch der Direktor ist Belgier – was freilich seinen erstaunlichen Vornamen nicht erklärt: Er heißt Erivan; als Vorname ist das in Belgien so ungewöhnlich wie überall sonst auch. Selbst in der Familie weiß man heute nicht, wie die Vorfahren einst auf Erivan gekommen sind. Dennoch: Der 1896 geborene Sohn von Karl und Elisabeth Schmitz-Scholl heißt Karl Wilhelm Erivan Schmitz-Scholl, und auch über folgende Generationen hat man das geheimnisvolle Erivan traditionsbewusst fortleben lassen, wiewohl das braven deutschen Standesbeamten mangels Präzedenzfall schlaflose Nächte bereitet haben mag.
Die Wege der Brüder Schmitz-Scholl trennen sich. Wilhelm, der ältere, scheidet aus der Geschäftsleitung aus, gründet 1906 die „Rheinische Zuckerwarenfabrik“ in Düsseldorf und verlegt auch seinen Wohnsitz dorthin. In einer neuen Geschäftsidee sind sich die Brüder indes einig: Süßwaren. Nicht nur Wilhelm beliefert die Tengelmann-Filialen; auch Karl wendet sich dem neuen Nasch-Markt zu und lässt 1911/12 im Mülheimer Stadtteil Speldorf eine Kakao- und Schokoladenfabrik errichten. Dort war bis Ende 2019 die Zentrale der Tengelmann-Gruppe.
Wir bei Wissoll
Den Ersten Weltkrieg und die Inflation überstehen Schmitz-Scholl und die Filialkette Tengelmann glimpflich. Nach 1925 allerdings gerät die Firma in eine Krise: Die Konkurrenz ist groß, Gewinne schrumpfen, das Filialnetz wirkt veraltet. Neue Steuern und juristische Auseinandersetzungen mit Bruder Wilhelm machen Karl Schmitz-Scholl das Leben nicht leichter. Auch ist er zu krank, um seine Firma noch energisch sanieren zu können. 1927, im selben Jahr stirbt Bruder Wilhelm, übergibt Karl die Geschäftsführung an seinen Sohn Karl junior.
Der schafft in kurzer Zeit die Wende – mit Rationalisierung, einem moderneren Auftritt, neuartiger Werbung und Rabatt-Aktionen. Außerdem liefert die Schokoladenfabrik nun auch an fremde Firmen. Dafür zieht man einfach den Namen „Wilh. Schmitz-Scholl“ zur neuen Marke zusammen: „Wissoll“. Das passende Logo aber schwelgt in humanistischer Bildung: Der Name wird als „vis / sol“ interpretiert; dass dies die lateinischen Wörter für Kraft und Sonne seien, wird mit den – griechischen – Götternamen Herakles und Helios verdeutlicht. So gesucht das heute wirkt – Wissoll wird zum Begriff, zumal in Mülheim: Wer bei Wissoll arbeitet, ist stolz darauf – und weiß auch, was es mit „vis“ und „sol“ auf sich hat.
„Kanonen statt Butter“
Senior Karl Schmitz-Scholl stirbt im April 1933. Seine Kinder Karl und Elisabeth erben das Unternehmen zu gleichen Teilen, doch Karl junior allein ist vertretungsberechtigt. Das ist im „Dritten Reich“ kein Vergnügen. Denn erstens sind den „nationalen Sozialisten“ Filialbetriebe grundsätzlich suspekt, auch wenn sie „Ariern“ gehören. Zweitens rüsten sie unter dem Schlagwort „Kanonen statt Butter“ und erschweren mit ihrer Autarkiepolitik den Zugang zu exotischen Rohstoffen. Das gilt erst recht im Krieg, und wieder einmal muss sich die Speldorfer Fabrik mit der Produktion von Lebensmitteln und „Ersatz“ unentbehrlich machen.
Als Karl junior nach 1947 aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrt, ist das Unternehmen schwer angeschlagen. Die meisten Tengelmann-Geschäfte liegen in Trümmern, doch wichtige Teile wie das Wissoll-Werk in Mülheim haben den Krieg überstanden. Im „Wirtschaftswunder“ können sich auch Wissoll und Tengelmann regenerieren. Symbol für den Aufstieg mit neuen, „amerikanischen“ Methoden ist das erste Selbstbedienungsgeschäft. 1953 ist Tengelmann damit vielen Konkurrenten voraus, und so eröffnet man dieses Geschäft nicht irgendwo, sondern in der Münchener Leopoldstraße. Nach und nach wird das ganze Filialnetz umgestellt; 1968 gibt es 350 moderne Tengelmann-Supermärkte.
Skeptischer Onkel
Zu dieser Zeit ist Karl Schmitz-Scholl 72 Jahre alt – und kinderlos. Wenn Wissoll/Tengelmann ein Familienunternehmen bleiben soll, läuft eigentlich alles auf Karls Neffen Erivan zu, den Sohn seiner Schwester. Aber von dieser Perspektive scheint Schmitz-Scholl nicht recht überzeugt zu sein. Als er aus der Gefangenschaft zurückkehrt, nimmt er die Zügel jedenfalls rasch wieder in die Hand – allein. Schwester Elisabeth, die sich vorübergehend ums Geschäft gekümmert hat, zieht sich zurück. Und Erivan, ihr Sohn, hat noch einen langen Weg vor sich, ehe er das Erbe des Onkels übernimmt.
Erivan Haub wird 1932 in Wiesbaden geboren. Die Eltern, Erich und Elisabeth Haub, geb. Schmitz-Scholl, gehören dort zum gehobenen Bürgertum. Ihre gesellschaftliche Rolle, so wird Erivan Haub später berichten, geben sie aber bald nach dem 30. Januar 1933 völlig auf: Sie wollen so wenig mit den Nationalsozialisten zu tun haben, dass sie einen Hof kaufen und sich weitab von allem der Landwirtschaft widmen – während in Mülheim Karl Schmitz-Scholl mit den NS-Größen auskommen muss, wenn er denn sein Unternehmen in der Hand behalten will.
Als Erivan Haub volljährig wird, beginnt eine ausgiebige Lehr- und Bewährungszeit. Zunächst geht er als Lehrling in die USA. Viel später in persönlichen Interviews erzählt er fast unglaubliche Anekdoten aus dieser Zeit: So packt er in einem Chicagoer Supermarkt Waren ins Regal – und der Vorgesetzte räumt ihm immer wieder alles vor die Füße, weil Haub angeblich nicht ordentlich gearbeitet hat. Irgendwann streckt der junge Deutsche seinen Quälgeist mit einem Schlag zu Boden – vor den Augen entsetzter Kunden. Aber: „Die Geschäftsleitung gab mir Recht und eine höhere Position.“
Beeindruckt vom American Way of life
Offensichtlich ist der junge Haub vom American Way of Life beeindruckt. Vielleicht gerade weil er am unteren Ende aller Hierarchien erlebt, wie man sich da durchsetzen kann – wenn man kann. Das wird noch Folgen haben. Aber nach zwei Jahren Praxis beordert die Familie ihn erst mal zurück nach Deutschland, zum Studium der Wirtschaftswissenschaft. Erivan Haub fügt sich ungern, aber erfolgreich. Zu den schönen Aspekten des Studiums zählen Fluchten ins Praxisleben der Hamburger Tengelmann-Niederlassung – und die Begegnung mit der Studentin Helga Otto, seit 1958 Helga Haub.
Nach dem Studium durchläuft Erivan Haub noch Stationen bei einer Immobilienfirma und bei der Commerzbank, ehe sich 1963 ein Platz bei Tengelmann in Wiesbaden für ihn findet. Sechs Jahre arbeitet Erivan Haub auf diesem wenig herausgehobenen Posten. Als Karl Schmitz-Scholl 1969 überraschend stirbt, scheint alles möglich – auch, dass er seinen Neffen ausgebootet hat. Aufbau eines Nachfolgers sieht anders aus. Der zupackende Erivan Haub fährt dennoch gleich nach Mülheim und meldet seinen Führungsanspruch an – erst später zeigt das Testament, dass er nicht enterbt, sondern zum Chef bestimmt ist. Und der Neue macht im Unternehmen rasch klar, dass er nicht nur auf dem Papier „allein geschäftsführender Gesellschafter“ zu sein gedenkt. Er führt wirklich; die „Ära Haub“ beginnt.
Was Erivan Haub vorfindet, nennt er später „solide, aber bescheiden“. Das ändert er bald, und dabei kleckert er nicht: Mit einem Paukenschlag übernimmt Tengelmann 1971 den alten Rivalen „Kaiser’s“. Technisch handelt es sich um eine feindliche Übernahme. In der freundlichen Praxis bleibt „Kaiser’s“ weitgehend erhalten, und Synergien durch Entlassungen strebt Erivan Haub nicht an.
Zurückhaltung
Es folgen weitere Zukäufe, in Deutschland und im europäischen Ausland. Haub fügt den Supermärkten (Tengelmann und Kaiser’s) Discounter hinzu („Plus“) und Großmärkte, später Baumärkte, Drogerie- und Textilketten. Spektakulär ist 1979 der Einstieg bei der „Great Atlantic & Pacific Tea Company“ in den USA. Als Tengelmann gegründet wurde, war „A&P“ schon weltweit bewunderter Schrittmacher im neuen Filialgeschäft. Nun ist die Firma ziemlich heruntergewirtschaftet, und viele Beobachter erwarten, dass Käufer Erivan Haub grandios scheitert. Doch der schafft es, das Ruder herumzureißen und „A&P“ zu sanieren – entgegen seinen üblichen Gewohnheiten allerdings auch durch ein rigoroses Sparprogramm, einschließlich Entlassungen.
Erivan Haub macht die Tengelmann-Gruppe zum größten Lebensmittel-Filialisten Deutschlands und zu einem weltweit agierenden Unternehmen. Und er wird dabei sehr wohlhabend. In den achtziger Jahren taucht er zu seiner Bestürzung erstmals in der berühmten „Forbes“-Liste unter den Reichen dieser Welt auf. Das alles weckt natürlich das Interesse der Öffentlichkeit, der Medien. Aber Erivan Haub kommt diesem Interesse kaum entgegen. Er wird zwar nicht zu einem Phantom wie die beiden Albrecht-Brüder. Aber über die Gewinne der Tengelmann-Gruppe kann die Wirtschaftspresse stets nur orakeln. Und das Bild des Chefs ist lange eigentümlich diffus.
Engagement
Denn einerseits finden Pressetermine mit dem Tengelmann-Chef zwanzig Jahre lang einfach nicht statt. Erst Mitte der achtziger Jahre bricht er mit dieser Gewohnheit und gibt sein erstes Interview. Andererseits geht Erivan Haub mit seinem Namen durchaus in die Öffentlichkeit – vor allem bei seinem Engagement für die Umwelt. Schon seine Mutter hat 1968, in Erinnerung an ihren Vater, den „Karl Schmitz-Scholl-Fonds“ gegründet; die Stiftung fördert Initiativen zum Umweltschutz. Erivan Haub dehnt das Engagement auf die Tengelmann-Gruppe aus. Berühmt wird die erste Initiative, mit der Schildkrötensuppen und Froschschenkel aus dem Sortiment verbannt werden. Es folgen Aktionen gegen Einweg-Plastikflaschen, phosphathaltige Waschmittel und FCKW- haltige Sprays. „Der Umwelt zuliebe“ setzt Haub entschlossen die Einkaufskraft seiner Unternehmen bei den Lieferanten ein, auch mit Anzeigen in Form offener Briefe, einschließlich seiner Unterschrift.
Ein bodenständiger Mülheimer Unternehmer wie seine Vorfahren ist Erivan Haub gewiss nicht. Eher schon ist er Wiesbadener. Und die frühen Erlebnisse in den USA haben ihn wirklich zu einem halben Amerikaner gemacht: Seit den fünfziger Jahren lebt er einen guten Teil des Jahres mit seiner Familie in Tacoma bei Seattle an der Westküste; alle drei Söhne – Karl-Erivan, Christian und Georg – sind dort geboren. In Wyoming kauft Haub außerdem eine Ranch; in den bayerischen Alpen legt er sich ein Hotel zu. Ein Leben – meilenweit entfernt von dem seiner Angestellten. Stoff für viele Seiten in der Regenbogenpresse. Aber dort taucht Erivan Haub nicht auf; und ebenso wenig sieht man ihn nach Art von Berthold Beitz als politisierenden Manager mit den Großen der Welt in der Tagesschau.
Zu fürsorglich?
Dem Firmenchef Haub wird sein weltläufiger Lebensstil nicht übelgenommen. Daheim in Mülheim wird er sogar wahrgenommen wie ein klassischer Firmenpatriarch, obwohl er wahrlich nicht alle Tage im dortigen Büro erscheint. Seine öffentliche Zurückhaltung spricht sicher für ihn, auch sein Engagement für die Umwelt und als freigebiger Mäzen. Vor allem aber wissen die Mitarbeiter: Wo immer Haub seine Entscheidungen trifft – er spielt nicht mit ihren Arbeitsplätzen. Vom Einstieg beim maroden A&P abgesehen, bedeuten Übernahmen bei Haub keine Entlassungen. Er eröffnet gern Geschäfte; welche zu schließen, behagt ihm nicht. Wo es nicht gut läuft, widmet er den Laden lieber um, vom Supermarkt zum Discounter etwa. Symbol des familiären Betriebsklimas in Mülheim ist der Sportplatz am Firmensitz, mit dem grünen Vereinshäuschen des „BSV Wissoll“.
Ende der neunziger Jahre wird Erivan Haub in den Wirtschaftsspalten der Zeitungen gerade diese fürsorgliche Haltung zum Vorwurf gemacht. Im Einzelhandel sind die Zeiten schwierig. Manche Beobachter prophezeien der Tengelmann-Gruppe schon das Aus. Erivan Haub räumt öffentlich ein, dass das Unternehmen am Ende wäre, gäbe es nur den Lebensmittelhandel. In einem Interview mit dem „Manager-Magazin“ 1999 präzisiert er: 200 Millionen Mark Miese gebe es allein bei den Supermärkten. Und er gibt zu, dass neben der allgemeinen Flaute, falschen Vorgaben der Regierung und Managementfehlern auch seine Politik der Fürsorge zur Krise beigetragen habe: Es gebe nicht nur zu viele Geschäfte, sondern auch zu viele ältere Mitarbeiter in den höchsten Tarifklassen. Dass das Unternehmen nun stellenweise von dieser Linie abweichen müsse, „tut mir unglaublich weh“, sagt Erivan Haub.
Das neue Klima
Der Firmenchef schießt einen dreistelligen Millionenbetrag aus seinem Privatvermögen zu, um das Unternehmen über die Runden zu bringen. Gleichzeitig beginnt eine Restrukturierung, die Erivan Haub aber weitgehend in die Hände der nächsten Generation legt; 2000 zieht er sich zurück. Es übernehmen die Söhne: Karl-Erivan Haub führt die Geschäfte in Europa, Christian Haub A&P in Amerika, Georg Haub kümmert sich um die Immobilien. 2002 übergibt Haub offiziell die Geschäftsführung an die neue Tengelmann Verwaltungs- und Beteiligungs GmbH mit Karl-Erivan und Christian an der Spitze. Der Vater tritt in den Hintergrund, behält zunächst 50 % des Unternehmens und übernimmt den Vorsitz im Beirat.
Karl-Erivan Haub ist es nun, der in Europa als Sanierer des Unternehmens auftritt und dabei neue Saiten aufzieht, sich von unrentablen Geschäften trennt. Unter anderem wird im Jahr 2003 die Süßwarenherstellung verkauft und das Mülheimer Schokoladenwerk geschlossen. „Wissoll“ existiert nicht mehr. Das stößt in Mülheim auf Kritik, aber der Erfolg gibt dem neuen Chef recht. Mit neuen und straffen Strukturen schafft er Tengelmann schnell aus der Krisenzone, das wird ihm allgemein bescheinigt, obwohl der Prozess noch nicht abgeschlossen ist: Erst in den nächsten Monaten etwa wird sichtbar werden, dass Tengelmann sich weitgehend von „Plus“ getrennt hat. Die meisten Läden werden bald „Netto“ heißen.
Sanierer und Veränderer
Die Rollenverteilung mit Karl-Erivan Haub als Sanierer hat sich früh abgezeichnet, und mancher wollte daraus einen Vater-Sohn-Konflikt lesen. Erivan Haub hat das schon 1999 bestritten: „Mein ältester Sohn und ich kommen glänzend miteinander aus.“ Karl-Erivan Haub hat über seinen Vater gesagt: „Tengelmann ist sein Lebenswerk“, und man kann daraus vielleicht hören, dass der heute 49-jährige Sohn *) die Sache etwas nüchterner sieht. *) Anmerkung der Redaktion – in den Alpen verschollen seit April 2018
Aber er ist nicht bloß Sanierer, der Geschäfte schließt. Auch er setzt auf Expansion, wie sein Vater, vor allem mit der Textilkette KiK und dem Baumarkt OBI. Ein gutes Arbeitsklima für die Mitarbeiter bleibt Programm, und auch das Engagement für die Umwelt setzt Karl-Erivan Haub (*verschollen seit 2018) fort, mit eigenem Akzent: Schwerpunkt ist nun der Klimaschutz. Tengelmann will bis 2020 den Ausstoß von Treibhausgasen um 20 % senken. In der Mülheimer Wissollstraße, gleich beim Firmensitz, kann man sehen wie es geht: Ein komplett erneuerter Tengelmann-Supermarkt nutzt als „Klimamarkt“ Erdwärme und Sonnenenergie, hat Kühlregale mit Glastüren und verwendet Abwärme der Kältemaschinen zur Heizung. Man kann sich vorstellen, dass Seniorchef Erivan Haub diesen Markt gelegentlich mit Vergnügen inspiziert, wie früher. Dass er dabei nicht erkannt wird, wie früher, ist allerdings unwahrscheinlich. Offenheit hat ihren Preis.
Ende des Artikels der Ruhr Revue Ausgabe 02/2009
Aus WAZ DerWesten vom 6.10.2016: Das Tengelmann-T leuchtet wohl bald nicht mehr…
Von Frank-Rainer Hesselmann, Mülheim
Nachkommen des Kaffeerösters Wilhelm Schmitz-Scholl entwickelten von der Ruhr aus ein Unternehmen mit eigenen Produktionsstätten, Vertriebswegen und Verkaufsstellen.
Mülheim.. „Wenn jemand von Mülheim an der Ruhr hört, denkt er an Kohle und Eisen. Es wird jedoch nicht so bekannt sein, dass die Ruhrstadt auch im Kaffeehandel mit an der Spitze steht. Nur wenige Mülheimer werden sich daran erinnern, dass vor mehr als 80 Jahren im Winkel von Delle und Ruhrstraße der Grundstein für das Kaffee-Imperium Tengelmann gelegt wurde.“ Das alles steht im vierseitigen Faltblatt, welches das Handelsunternehmen Tengelmann zur Eröffnung seiner ersten Mülheimer Filiale, Kohlenkamp 23, seinen Kunden offeriert. Es ist an einem Freitag, 29. April. Das Jahr steht nicht in der Chronik.
Aus der Kaffeerösterei mit einer kleinen Maschine ist ein Großunternehmen gewachsen, mit eigenen Fabriken, Herstellerwerken, zahlreichen Filialen in Deutschland und vor allem mit beinahe weltweiten Handelsbeziehungen. Sie bringen Rabatte bei Großeinkäufen der Rohstoffe, deren veredelte Produkte in den eignen Läden verkauft werden. Bereits 1856 gründet Wilhelm Schmitz mit Ludwig Lindgens ein Kolonialwarengeschäft, das mit den Ruhrschiffen arbeitet, die Kohle in holländische Häfen bringen, auf der Rückfahrt mit Kaffee und Waren beladen wieder in Mülheim anlegen. Elf Jahre später steigt Lindgens aus diesem Geschäft aus und widmet sich der Lederverarbeitung.
Betrieb wurde verlagert
Unter Wilh. Schmitz-Scholl führt Schmitz die Firma mit seiner Frau Luise Scholl weiter. Mülheim gilt um 1867 bereits als Handelsplatz, der „die ganze Grafschaft Mark, Dortmund und andere Orte mit holländischen Waren wie Oel, Thran gesalzenem Fischwerk, Kaffee und Tee versähe“. 1882 veredelt Schmitz in der eigenen Rösterei an der Ruhrstraße die Bohnen selbst, bevor er sie verkauft: „Warenimport und Verarbeitung gehören in eine Hand.“ Der Schmitz-Schollsche Kaffee kommt bei den Kunden bestens an. Die Rösterei verarbeitet 1885 bereits mehr als 1000 Pfund pro Tag. Zwei Jahre später wird der Betrieb an den Stadtrand verlagert. Mehrere Ruhrhochwasser beschleunigen den Umzug, weil sie teilweise die Lagerbestände vernichten.
In dieser Zeit startet auch Josef Kaiser in Viersen mit diesem Geschäftsmodell, röstet Bohnen und verkauft sie in Kaffeeläden.
Die Wege beider Familien sollen sich 90 Jahre später geschäftlich vereinen.
Erfolgreiches Konzept
Als Wilhelm Schmitz 1887 stirbt, übernehmen seine Söhne Karl und Wilhelm jun. die Firma und etablieren „Plantagenkaffee“ und „Storch-Kaffee“. Weil die Auslieferung mit Fuhrwerken teuer ist und „mangelnde Sorgfalt bei der Warenpflege in den Geschäften zu Vertrauensverlusten und Absatzeinbußen“ führen, gründen die Brüder kurz entschlossen unter einem neuen Namen ein eigenes Vertriebs- und Filialnetz. Sie benennen es nach ihrem Prokuristen Emil Tengelmann. Am 16. Juni 1893 erfolgt die Eintragung der Firma in das Bochumer Handelsregister.
„Dieses Konzept ist erfolgreich. Das neue Unternehmen floriert“, steht in der Firmenchronik. Schnell bauen die zwei Mülheimer Kaufleute das Filialnetz aus. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts dezentralisieren sie die Röstereien, verkürzen damit die Transportwege ihrer Fertigprodukte in die Filialen. Süßwaren, bezogen von Fremdfirmen, erweitern bald das Angebot.
Um weiter „alles aus einer Hand“ an ihre Kunden zu bringen, bauen die Großhändler eine Schokoladenfabrik in Broich. Als diese 1912 die Produktion aufnimmt, wird an der Ulmenallee auch die neue Firmenzentrale bezogen, die bis heute Sitz der Handelsgruppe ist. Wahrscheinlich entsteht dort gleichzeitig der erste Fabrikverkauf (Ulmenallee 28). Auch darüber gibt es kein konkretes Chronikdatum.
Kunden pfeifen auf Schonung der Umwelt
Klar ist nur: Bis in die 1950er Jahre betreibt Tengelmann nur zwei Filialen in der Heimatstadt (Ulmenallee und Kohlenkamp). In Düsseldorf oder Berlin gehört die Handelskette jedoch schon lange zu „den guten Geschäften mit den feineren Produkten“. 1953 eröffnet Tengelmann in München den ersten Selbstbedienungsladen. Auch in Mülheim wird das Filialnetz dichter, wächst in die Stadtteile. Immer sind die Firmenerben und -lenker daran interessiert, die Produktions- und Vertriebswege zukunftssicher zu ordnen.
Das goldgelb-rote „T“ – ein stilisierter Brunnen – leuchtet fast in jeder deutschen Stadt sowie im Ausland. Die Tengelmann-Chefs setzen auf Tier- und Umweltschutz, der Konkurrenz oft einen Schritt voraus.
Kleine Preise zählen mehr
Schildkrötensuppe und ähnliche Produkte fliegen 1985 aus dem Sortiment. Mit dem Klimamarkt – komplett CO2-frei – an der Koloniestraße setzt Tengelmann den nächsten Meilenstein in diese Richtung, das „T“ in Grün kommt hinzu. Mehr Kunden zieht das jedoch nicht. Die Mehrheit pfeift auf Tierschutz und die Schonung der Umwelt. Kleine Preise zählen mehr als gutes Klima.
Heute gehören die OBI-Baumärkte und die Kik-Textilkette zum Handelsunternehmen an der Wissollstraße, geleitet von der fünften Generation. In 2003 verkauft Tengelmann die Wissoll-Schokoladenproduktion. Die Discounter-Tochter Plus vereint sich in 2009 mit der Edeka-Tochter Netto. Seither laufen auch Fusionsversuche von Kaiser’s Tengelmann und Edeka.
Inzwischen machen die 451 Kaiser’s Tengelmann-Filialen jährlich Millionenverluste und sollen den Besitzer wechseln, viele davon wahrscheinlich eher schließen. Der Kampf unter den Handelsriesen ist ruinös.
Dieser Beitrag wird fortgesetzt.
Noch zu verifizieren:
Sohn von Carl Nedelmann „Ernst geb. 1897“ Adresse Kettenbrückenstr. 7 Discontogeschäft
Oskar Johannes Natorp
Tafelindex: | 10 „Natorp“ auf 6 Anschlusstafeln |
Personendaten:männlich (1872 – 1953)
- Beruf: Eisenwarenhändler
- Religion: evangelisch
- Geburt: So., 9. Juni 1872, Mülheim/Ruhr
- Taufe: Sa., 6. Juli 1872, Mülheim/Ruhr
- Tod: Mai 1953, Mülheim/Ruhr
- Vater:Julius Oskar Luther Wolfgang Natorp(1833 – 1899)
- Mutter:Agnes Maria Hengstenberg(1839 – 1873)